Wanda Kubatzkÿ

In this project, I follow the path of a woman who lived 100 years ago.

In diesem Projekt folge ich dem Weg einer Frau, die vor 100 Jahren gelebt hat. Angefangen hat es im Jahr 2000 mit dem Kauf mehrerer Postkarten auf einem Berliner Flohmarkt. Auf diesen Postkarten tauchen immer wieder zwei Namen auf: "Wanda Kubatzkÿ" und "Franz Dumke".

Ich habe absolut keinen Grund, mich für diese Geschichte zu interessieren. Ich bin nicht mit diesen Leuten verwandt. Ich kenne niemanden aus ihrer Familie oder ihrem Umfeld. Sie sind völlig Fremde für mich. Aber der Name "Wanda" fasziniert mich. Ich will die Geschichte dieser Wanda finden und in ihr Leben eintauchen. Und so mache ich mich auf die Suche.

20 Jahre lang bleiben meine Nachforschungen erfolglos. Bis auf ganz wenige allgemeine Informationen finde ich nichts heraus.

Im November 2020 stoße ich auf einer Familienforschungsplattform plötzlich auf Informationen. Meine Suche nimmt Fahrt auf.

1873

Jennÿ Lindenberg und David Kubatzkÿ gründen in Zippnow eine Familie. Beide gehören der jüdischen Gemeinde in Zippnow an. Am 16. August 1873 kommt ihr erstes Kind Johana (Hanna oder Hannchen genannt) zur Welt. Am 13. Januar 1875 dann ihr zweites Kind Hedwig.

Die Danziger Strasse in Ratzebuhr

1875

Die Familie zieht nach Ratzebuhr. Hier werden die Söhne Louis am 19. September 1876 und Hermann Julius am 12. Dezember 1878 geboren.

Die Geburtsurkunde von Wanda Kubatzkÿ | (c) Ancestry

13. April 1881

Wanda Kubatzkÿ wird in Ratzebuhr, Pommern geboren. Sie ist das fünfte von insgesammt sieben Kindern der Familie Kubatzkÿ. Der Vater ist Glasermeister. Viel Geld hat die große Familie nicht.

1883

Wandas Schwester Anna wird am 29. August 1883 geboren. Ihr älterer Bruder Louis stirbt am 15. August 1884. Und am 8. Dezember 1885 wird schließlich ihr jüngster Bruder Max geboren.

1897

Wanda schließt die Volksschule in Ratzebuhr ab und geht mit ihrer großen Schwester Hedwig zusammen 1897 nach Berlin. Hier arbeitet Wanda zwei Jahre lang als Köchin. Hedwig ist Modistin. Zu Beginn wohnen die beiden Schwestern noch zusammen. Später zieht Wanda in eine eigene Wohnung.

Siemens Revolver-Dreherei mit nationalsozialistischer Beflaggung.

1899

Wanda arbeitet 10 Jahre lang als Spannerin bei der Firma Siemens.

Das ehemalige Friedrische Waisenhausin Berlin

18. März 1907

Wanda bringt einen Sohn zur Welt, den sie Walter nennt. Der Vater des Kindes ist unbekannt. Sie gibt ihr Kind in das Friedrische Waisenhaus in Boxhagen-Rummelsburg.

27. März 1909

Wanda zieht mehrmals während der Jahre 1900-09 in Berlin um. Unter anderem wohnt sie in der Münzstrasse nahe des Alexanderplatzes und später dann in der Lychener Strasse. Hier trifft sie wahrscheinlich auch auf den sechs Jahre jüngeren Tischler Franz Dumke, der mit seinen Eltern und weiteren Geschwistern ebenfalls in der Lychener Strasse wohnt.

Am 27. März 1909 heiraten die jüdische Wanda Kubatzkÿ und der evangelische Franz Gustav Adolf Dumke in Berlin.

24. April 1909

Der Sohn von Wanda, Walter Kubatzkÿ, stirbt in dem Friedrischen Waisenhaus in Boxhagen-Rummelsburg.

9. Juni 1909

David Kubatzkÿ, der Vater von Wanda, stirbt in Ratzebuhr.

Eine der Karten, die ich auf dem Flohmarkt gekauft habe. Laut Aussage einer Verwandten von Franz sollen dies die Kubatzkÿ-Schwestern sein. Angeblich handelt es sich bei der knienenden Frau rechts unten um Wanda.

23. April 1914

Wanda schreibt eine Karte an die Familie ihres Mannes. Sie hofft, daß alle gut nach Hause gekommen sind und daß es ihr in Blankenburg bei Berlin gefallen wird. Was sie dort macht und warum sie dort ist, bleibt offen. Ebenso, warum sie eine Karte verschickt, die aus einem reproduzierten Foto besteht.

Gruppenfoto von Soldaten im ersten Weltkrieg. | Photographisches Kunstatelier J. Juress, Nowy-Dwór, 1915

1915-17

Franz ist als Reserverekrut in der Nähe von Stolp und Hammerstein stationiert. Er macht einen Kompanie Führer Kurs und schreibt seiner Wanda Feldpostkarten.

Wanda und Franz wohnen jetzt gemeinsam in der Wichertstrasse in Berlin Prenzlauer Berg.

1939

Bei der Volkszählung 1939 wird Wanda noch als mit Franz Dumke in einem Haushalt lebend aufgeführt. Das ist interessant, denn als Jüdin müßte sie schon 1939 starken Repressionen ausgesetzt sein.

Was während der folgenden Jahre mit Wanda passiert bleibt völlig im Dunkeln. Ist sie untergetaucht? Wurde sie versteckt? War sie in einem Lager? In allen Archiven ist nichts aus dieser Zeit zu ihr zu finden.

November 1941

Hedwig Kubatzkÿ, Wandas größere Schwster, wird von der Gestapo aus dem “Judenhaus” in der Berliner Turmstrasse, in das sie gezwungen wurde zu ziehen, abgeholt und in das Sammellager Lewetzowstrasse gebracht. Hier verbringt sie einige Nächte. Dann muß sie mit den anderen Gefangenen in einem bewachten Marsch zum Bahnhof Wannsee laufen. Hier wartet ein Zug der Deutschen Reichsbahn, der die Gefangenen Richtung Osten bringen soll.

Am 27. November 1941 fährt der Zug mit Hedwig und weitere 1052 Frauen, Kinder und Männer, hauptsächlich aus Berlin, in Richtung Osten. Die Deportierten sollen in das Rigaer Getto gebracht werden. Als der Zug mit Hedwig am 30. November 1941 in Riga ankommt, ist das Getto noch voll. Deshalb läßt man den Zug am Stadtrand von Riga anhalten. Hier wurde bereits vor Wochen begonnen im Rumbula-Wald Gruben für 25.000 bis 28.000 Juden auszuheben. Alle 1053 Insassen des Zuges werden gezwungen auszusteigen. Man führt sie in das kleine Wäldchen. Dort müssen sie sich ausziehen, in die ausgehobene Grube steigen und sich dann auf die toten Körper unter ihnen legen, mit dem Gesicht nach unten. Sie werden von hinten erschossen.

August 1942

Johana (Hannchen, Hanne), die älteste der Kubatzkÿ Schwestern lebte bis mindestens 1939 noch in Ratzebuhr. Im Laufe des Jahres 1942 wird sie in das Sammellager in der Berliner Gipsstrasse gebracht.

Am 15. August 1942 wird sie mit dem 18. Osttransport nach Riga deportiert. Sie kommt dort am 18. August an. Alle, die den Transport selber überleben, aber als nicht arbeitsfähig eingestuft werden, werden unmittelbar nach der Ankunft in den Wald von Bikernieki getrieben und dort erschossen. Johana wird auf der Liste als nicht arbeitsfähig vermerkt.

Konzentrationslager Auschwitz | Fotograf unbekannt

Dezember 1942

Wandas Schwester Anna Budzislawski, geborene Kubatzkÿ wird am 14. Dezember 1942 mit dem 25. Osttransport aus Berlin nach Auschwitz deportiert. Auch sie wurde zuvor im Sammellager Gipsstrasse in Berlin inhaftiert. Ihr Mann, Theodor Budzislawski, ein Musiker, ist bereits 1940 gestorben. Anna arbeitet daher seit dem 4. Juni 1940 bei den Simens-Schuckertwerken in Berlin.

In Auschwitz verlieren sich ihre Spuren. Es ist nicht klar, ob sie dort umkommt oder weitertransportiert wird. Das Bundesgedenkbuch der Bundesrepublik Deutschland gibt diesen Transport als letztes Lebenszeichen an.

Baracke im Konzentrationslager Auschwitz | Fotograf unbekannt

Januar 1943

Max Kubatzkÿ, das jüngste der Kubatzkÿ Kinder, lebt mit seiner Familie in Berlin Friedrichshain. Wahrscheinlich auf Druck der Behörden lassen sich Max und seine Frau Maria scheiden. Ihre Tochter Asta bleibt bei der Mutter. Auch er wird im Sammellager in der Berliner Gipsstrasse inhaftiert. Am 13. Januar 1943 erreicht er mit dem 26. Osttransport das Konzentrationslager Auschwitz. Das ist das letzte Lebenszeichen von ihm. Seine Tochter versucht nach dem Krieg mehrfach ihren Vater für tot erklären zu lassen. Was immer wieder scheitert.

Strand am Hafen von Haifa, Israel

16. Dezember 1945

Hermann Julius Kubatzkÿ, Wandas älterer Bruder, emigriert 1937 mit seiner Frau Rosa, geborene Arndt nach Haifa, Israel. Rosa stirbt 1944 in Israel. Sie haben einen Sohn, der später eine Familie gründet und in die USA auswandert.

Hermann Julius wird am 16. Dezember 1945 in Israel eingebürgert. Doch spätestens 1957 ist er wieder in Deutschland zurück. Er hat inzwischen nochmals geheiratet. Die letzten Jahre verbringt er in einem jüdischen Altersheim in Berlin.

01. Juli 1947

Nur etwa 6500 Berliner Jüdinnen und Juden überlebten den Holocaust in Berlin. Im Mitgliederverzeichnis der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Stand vom 01. Juli 1947) wird Wanda Dumke, geborene Kubatzkÿ (oder Kabatzky wie sie dort geschrieben wird) als lebendes Mitglied geführt. Sie ist also eine der wenigen Überlebenden. Gerettet hat sie wahrscheinlich die “privilegierte Mischehe” mit ihrem Mann Franz. Als Wohnort wird noch die gleiche Adresse angegeben, wie vor dem Krieg.

Juni 1950

Wanda beantragt beim O.D.F. (Opfer des Faschismus) eine Anerkennung und erhält daraufhin eine VdN (Verfolgte des Naziregimes) Rente.

28. April 1969

Franz Dumke, Wandas Ehemann, stirbt. Mit ihm war Wanda sechzig Jahre lang verheiratet. Diese Ehe hat ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.

Ausweis der Versicherungsanstalt Berlin | (c) Landesarchiv Berlin

18. Januar 1970

Knapp sechs Monate nach dem Tod ihres Mannes stirbt auch Wanda Dumke, geborene Kubatzkÿ, im Alter von 88 Jahren in Berlin Prenzlauer Berg. Sie lebt bis zuletzt in der Wohnung, die sie 1917 zusammen mit ihrem Mann bezogen hat.

(c) Foto privat

Laut Familienangehörigen sollen hier zu sehen sein: Links: Wanda; Mitte: Franz; Rechts: unbekannt

Laut Familienangehörigen sollen das die vier Kubatzkÿ Schwestern sein.